Anita

Clemens Meyer



Wenn sie hustet, fühlt sich das so an, als würden ihre Lungen sich in ihr öffnen, als würden die winzigen Bläschen sich mit Blut füllen, und wenn sie die Augen schließt, scheint es ihr, sie kann sie sehen, rotgolden leuchtend, tief in ihr drin. Sie spürt es unter den Schulterblättern, unter der Haut, unterm Fleisch, dass es da drängt, herausdrängt aus ihr.

Auf den Platten aus Glas sind es tatsächlich Flügel, die dort in ihrem Körper liegen. Die nur der Herr über die Strahlen sehen kann, die nur sie beide sehen können, und es gefällt ihr nicht, dass der Herr über die Strahlen sie weitergibt, die Platten verteilt an die Ärzte, „ich sehe mein Herz, ich sehe meine Flügel“, wie ein Kind hat sie das erste Mal geschrien, ein freudiges, überraschtes Schreien, das elektrische Brummen der Maschine, das blaugrün flackernde Licht dieser Strahlen im dunklen Raum, „ich sehe…“.

Sie geht zur Bar, schreitet durch den Raum, diesen anderen Raum jetzt, schweigend. Nur Frauen um sie herum scheinbar, Frauen, die eine Gasse bilden, immer mehr Körper überblickt sie, die vor ihr zurückweichen, der schmale gewundene Weg zur Bar. Weil sie denkt, dass sie träumt, weil sie weiß, dass sie träumt, ist sie nicht verwundert, dass die Köpfe der Leiber sich verändern bei jedem ihrer Schritte. Sie spürt, dass die kleine Gestalt wieder neben ihr läuft. Wenn sie den Blick senkt, links meistes ist ihr kleiner buckliger Begleiter, kann sie ihn sehen, aber das muss sie gar nicht, will sie gar nicht. Zinnober nennt sie ihn, eine trichterförmige bunte kreiselnde Öffnung statt Augen mitten im Gesicht. Ein Märchen, das jemand ihr vorgelesen hat, als sie noch ein Kind war. Klein Zaches, genannt Zinnober. Meine Mutter? Es ist eine Lüge, denkt sie, dass in den Träumen die Farben verschwinden, wie das nachts manchmal passiert. Es ist ein Lüge, dass man sich dort, im Schlaf, nicht erinnern kann, an die Dinge, die Draußen sind, an Räume, an Bars, an Menschen, an die Geräusche, an Lichter, an die Straßen, in denen man länger stehengeblieben ist, weil man nicht allein war, Hauswände, die nach Erde riechen, an richtigen Quatsch und dumme Spiele, an die Seen, weil ich doch so gerne bade, die großen Wannen in den großen Hotels, und wie die Fliesen sich anfühlten, wenn du mit deinen Fingern drüber gelaufen bist… Badevorhänge, feuchte Kanapees.

Oben ist dann manchmal umgedreht, sie blickt mit gesenktem Kopf, den Hals vorgestreckt, der wird ja immer länger, auf die leuchtenden Platten, und will, dass das kein anderer sehen kann, Inneres, und weiß, dass das nicht so ist.

Die Knochen, die Beinknochen, sind so schmal und dünn und lang. Ein Schritt nach links, ein Schritt weg von dieser Seite, sich eindrehen, Streichholzmännchen, „Musik, Musik, gebt mir blaue Noten!“, Kastanienmenschen, stille Bewegung.

Ich will nie wieder liegen. Wer hat das nur zu ihr gesagt? Ihre Mutter? Nein. Eine der Frauen in der langgezogenen schmalen Straße, die vom Hackeschen Markt sich wegbewegt? Sich eindrehen, sich um einen Baum winden. Das hat sie als Kind oft getan. Sich dort nach oben winden. Zu einem Band seltsamer Farben werden. Ich hatte mir vorher ein kleines Schutzprogramm verordnet: Guck dir das genau an – macht dir irgendwas Probleme? Kriegst du Pickel? Ist dir was unangenehm? Möchtest du eigentlich weg? Blue Notes. Ich war immer ein fröhliches Kind. Was die Leute immer so denken, dass es einem schlecht gehen muss, deswegen, undsoweiter, das ist doch Unsinn.

Und wenn du so stehst, die Beine sind doch schon eine Art nach unten gerichtete Plattform, fühlst du doch schon eine gewissen Kraft, nicht wahr?

Sie kann diese Platten, hinter oder vor denen das Licht die Bilder bündelt, nicht transportieren, selbst in ihrem Schlaf nicht, dort, hinter der Barriere. Man möchte die strahlenden Platten manchmal vor die Leute wuchten. Traum ist ein sehr seltsames Wort. Seltsam ist auch ein komisches Wort. So unpräzise. Aber das ist ja nun das komischste von allen Worten. Weil man da doch irgendwann und irgendwo an seine Grenzen… undsoweiter. Schritt für Schritt bewegt sie sich zwischen den Leibern der anwesenden Frauen hindurch Richtung Bar. Ein Tresen am Ende der Welt. Begrabt mich hinter der Theke. Aber das hat jemand gesagt, weit von ihr weg, in der Zukunft, „everybody loves somebody sometime“, Wurmlöcher, trichterförmig durch Raum und Zeit und Körper, trichterförmig wie so… Blumen, die sich in Kegeln öffnen. Dean Martins Gesicht verpuppt sich. Verschwindet in den eigenen Falten. Da kommen die Leute und bedrängen sie. „Ach, ach, ach… Bluuumen.“ Glotzt nicht so gefühlig. Wenn ich nur nicht so müde wäre.

Hineinzuschauen, Hinauszuschauen. Es ist eine Lüge, dass man im Schlaf keine Erinnerungen an Draußen hat. Dass ich immer davon träume, mir das immer vorstelle, dass ich noch stehen kann.

Wer hat das zu ihr gesagt? War’s vielleicht sogar der bucklige Zinnober, ihr kleinwüchsiger verwachsener Begleiter mit dem Loch auf der Stirn, der mit seinem Buckel immer am Rand der Löcher hängenbleibt, die ihn von Einschlag zu Einschlag treiben, im Strudel der Zeit, im Strudel der kälteren Schichten der Luft? Aber Zinnober hinkt nur, aber er geht und läuft, Erdgeist, Wurzelmännlein, Käferkönig, und sein Kopf ist so verquer, dass sein Ein-Auge zum Ohr wird, ohne Läppchen allerdings, „everybody needs somebody sometime“, und er fühlt und sieht die Schmerzen und die Freuden der Anderen, als wäre sein Hirn von jenen Platten aus Glas ummantelt, umgekehrte Richtung, die der Herr der Strahlen ihr an die weiße löchrige Brust drückt, ihr die Brust platt drückt. Und kühl summte es auch auf dem Rücken, so dass es von innen und von hinten an diese Scheibe pochte. „Ich sehe meine Flügel, ich sehe mein Herz.“

Es war in einer dieser Straßen, in denen sie stehenblieb. Weil sie dachte, dass sie nicht allein war. Wo ihr, als sie sich an die feuchten Wände lehnte, der Putz in Hals und Nacken rieselte. Schuppen aus Stein. Die plötzlich weich und warm wurden. Als wäre ich das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Wenn du von den Feuern erzählst, meine Kleine, weißt du doch von nichts. Weil die Knochen so dünn und schmal sind, dass sie nicht beschützt werden vom Fleisch. Das da wegbrennt, „dass da die Splitter meiner eigenen Knochen und die der anderen Knochen der Anderen in mein eigenes Fleisch dringen. Und ich dann später sehe, dass ich von nun an und in alle Zeiten und Weiten mit meinem Rumpf kriechen werden muss“. Über Pflaster und Straßen und Teppiche undsoweiter. Rosa ist die Farbe der Saison in den Schlachthäusern. Die gewaltigen farbigen Trichter der Explosionen. Die Deformationen von Leben. In den Kathedralen. In den Träumen. Köpfe auf Beatmungsmaschinen. Die Parade der Köpfe, die Rebellion der Geköpften, die Wege führen unter den Stein, in die feuchten Keller, unter die dicke borstige Fläche der Stadt, in den Schatten dieser Verhöhlungen öffnen sich Strudel im dunklen Licht, verklumpen sich die Stränge, die Tentakel, die aus der Tiefe zu uns dringen, Orange leuchten die Bullaugen aus und in die fremden Dimensionen, einatmen, ausatmen, die segelförmigen Doppelseiten von Zeitungen flattern, Error, Nachrichten, rotschwarze Titelblätter, Terror, eine 8 kippt um, Papiere, alles formt sich und zerfällt, Stoffe, trotz Windstille, Sprachrohre, Hör-Röhren, Geschichten aus Zweitausend Nächten und doppelt so vielen Tagen, die Prinzessin Sch., deren verschiedene Namen mit ihr (immer noch auf dem Weg zur besten Bar der Stadt inmitten all der Leiber) um die Baumstämme kriechen, die Jahresringe, in deren Spalten sich winzige Insekten mit viel zu großen Köpfen verpuppen, Wurzeln, Quadrate, Wanderer kommst du nach Sch., Harz tropft in die Gefäße. Wir bewegen uns zur Musik. Sie tanzt sitzend, sie tanzt still.

Einmal nur Luftholen. Wo wir uns doch verlaufen haben. Aber wer weiß das schon. Den Hals, der wird ja immer länger, nach vorne strecken. Einatmen, Ausatmen. Gen Ginnungagap. Was soll das nun schon wieder sein? Weltenabgrund. Germanische Legenden, eher so Märchen. Jemand hat ihr das früher mal vorgelesen. Wie das andere Märchen. „Hunkepus, Hunkepus, wir hängen unsre Wunden zu.“ Sie schaut auf die Platten, die wie eine schwere gläserne Schürze vor ihr hängen, hört das elektrische Brummen, Ohrenlöcher, Augenlöcher, das flackernde Licht, das tief in sie dringt. Sie stülpt eine Maske, eine Mütze, über ihr Gesicht, die ihr jemand von irgendwoher reicht, spürt die Berührungen durch den… Stoff, und ihren eigenen Atem.

Mein Gesicht fühlt sich immer sehr geteilt an. Da ist auf der linken Seite zum Beispiel dieser Pickel, da habe ich das Gefühl, dass sich das bei mir manchmal so öffnet, dass das manchmal so aufgeht. Als wenn da was oder einer auf einen Knopf drückt. Wichtig ist, dass man in eine Sache hineingeht. Dass man da keine Angst hat. Ich wollte vieles im Leben ausprobieren, solange ich keinen großen Schaden dabei nehme. Zu jeder Zeit habe ich ziemlich auf mich geachtet, dass ich nicht vergammle. Das ist so eine Art Membran, die sich immer wieder mal öffnet, auch wenn ich das gar nicht will.

Ist der Traum und der Schlaf eine Art Hülse, aus der wir hervorbrechen müssen? Aus der ich hervorbrechen muss? Die Traumbarriere. Wir wollen doch manchmal nur Quatsch machen. Wie Kinder. Ich verschränke meine Arme hinterm goldenen Topf, hinter meinen Schultern. Rapunzel, lass dein Haar herunter. Ach Zinnober, dunkelrot und schmal und Silber, Edelsteine auf deinem Rücken. „Ich sehe, ich sehe, aber es zerreißt mich von innen her.“

Und ich lege mich, lege mich einfach auf die Bühne. Mundöffnung nach unten. Mein Husten fährt in den Grund. Wo mein Hals immer länger wird. Tierkörper. Wo ich mich frage, wie komme ich dahin? Und wo ist mein humpelnder Freund Zinnober? Schlafe ich draußen, oder schlafe ich drinnen, also im Traum? Rings um mich die Köpfe von Tieren. Horn, Horn, Hörner. Meine Beine ziehe ich an meinen Körper, ich bin Anita, die Frau mit dem weichen Fell. Das Mädchen mit dem goldenen Flies. Die Haut strafft sich um meinen Kopf. Schädel will ich nicht sagen. Wer mich berührt, verletzt sich die Fingerkuppen am Sandstein. Schwarz wie Teer. Wie aufgerautes Ebenholz. Die Luft fährt zischend aus meinen Mundwinkeln. Rosa ist die Farbe meiner Löcher, Rosa ist die Farbe der Schlachthäuser der Saison. Ich bin viel zu laut.

Sie läuft durch den Raum. Es scheint ihr, als wäre dies alles schon einmal gewesen. So, oder so ähnlich. Wurmlochbarrieren, Trichterbarrieren. Gurte baumeln vor ihr, von der Decke des Raumes. Ihre Hände verdicken sich zu Kampfhandschuhen. Sie fällt auf die Knie und spürt, wie die Stacheln aus ihr hervorbrechen. PLOPP. PLOPP. Bluttropfen am Metall. Das kann nicht sein, kann das sein? Das ist kein Traum, es ist das, was sie Wirklichkeit nennen. Tiere brüllen und röhren aus der Masse der Menschenähnlichen um sie. Ihre Lungen pulsieren, tief in ihr drin. Bluttropfen in den angerissenen winzigen Gefäßen.

Goldene Schuppen überziehen ihren Körper. Verschwinden dann wieder. Sie ist in permanenter Wandlung. Sie möchte gern sprechen, die Menschen um sie, die doch eben noch Frauen mit schrecklichen Köpfen waren, ansprechen, aber ihr Mund ist umhüllt, ist verdeckt, ist verschlossen, und sie atmet laut und leise ihre Worte immer wieder in die Schichten, die ihren Mund jetzt verschließen. „Ich will Musik, ich will raus, ich will blaue Noten.“ Und während sie dort mit der Kraft ihrer Zunge und ihres Atmens drückt, „everybody loves some roses…“, spürt sie, wie sich oben, unter den Haaren, unter ihrem Topf aus Haaren ihre Oberfläche spaltet, jemand schneidet ganz zart mit einer langen dünnen Klinge über ihre Schädelknochen, sie fühlt den Luftzug, oder was auch immer sie da fühlt, an und auf ihrem offenen Hirn. Regentropfen. Träume. Wirrungen. Das sind doch nichts als… Farben flimmern und ändern sich vor ihren Augen, die immer noch sehen können, aber da sitzt, auf dem Stuhl, auf dem langbeinigen Barhocker, dessen Beine dünn und lebendig wie die einer Spinne sind, eine dunkle schwarze Frau ohne Kopf, ohne Glieder, ein dunkler lederner Torso, der spricht aus dem Nagelgespickten offenen Hals zu ihr, während der Stuhl unter diesem ruhenden Schwarz sich unmerklich bewegt, „Was willst du, Medea?“.

Und ich lege mich nieder, ich will nie wieder stehen, winkele mich ein auf dem kühlen schönen Boden, der gütigen zornigen Stachelbeere zu Füßen, spüre, wie meine Tentakel Halt suchen, mein offenes braunes Hirn schmiegt sich auf den Grund, alles verschmilzt mit dem, was sie Wirklichkeit nennen. Schichten aus Zeiten und Körpern. Braun lang gewunden. „Was willst du, Medea?“

„My name is Lady Pinhead, du Lungenmensch, du Menschmaschine. Haste noch nie von den Zenobiten gehört?“

„Nee.“

„Anita, Anita.“

„Selber Anita.“ Aber da schweben sie schon um diese Frau, die sich selbst Lady Pinhead und die Zenobiten nennt, Gegürtete, Hautlose, körperlose Häute, vieläugige Geschwüre, glühende Nervenbahnen, lange Seelen, sie lacht gegen diesen Irrsinn an und weiß doch, dass sie selbst dazugehört. Erlösung. Was für ein schweres Pathos, sie wagt es kaum zu denken, dieses Wort. „Ich bin Frau Doktor Moreau“, hört sie den Torso hinter sich flüstern, kriecht von ihm oder ihr weg, „Frau Moreau von der schönen Insel, wo wir Insektenmenschen züchten. Unter anderem.“

Sie kriecht zu dem sich sehr langsam wiegenden dunklen Kissen aus kaltem Teer, das Portal des schweren Schlafes. „…vielleicht auch… nie mehr erwachen.“ Und dort versinkt sie, wird absorbiert, eingesaugt, bedeckt, Körperteil für Körperteil, Rundung für Rundung verbindet sie sich und wird eins, innen und außen, Anita, Anita, lass dein Kleid herunter.

Sie hört die Rufe, hört die Pfiffe, und immer wieder sitzt sie auf ihrem Hocker, windet sich, die goldene Meerjungfrau, Gottesanbeterin, tanzt mit den Armen, bevor sie sich erhebt, und immer wieder steht sie vor den schweren Platten, Strahlen, Menschen, Herren, fühlt die unsichtbaren Skalpelle auf ihren Häuten, ihren Schichten, winzige Schnitte, silberglänzende Zellkerne, behaartes Herz, wie schön der Mensch auch innen ist, denkt sie, wenn sie sich so sieht auf dem grünen dunklen Glas, auch im Zerfall. Keine Zeit mehr.

„It’s showtime!“ Und sie tritt auf die Bühne.