Birgit Dieker - The Big Striptease

Andrea Jahn



Ich bin Ihr Werk,

Ihr Wertgegenstand,

Das Baby aus reinem Gold,

Das schmilzt zu einem Schrei.

Ich dreh mich dabei und brenne.

Glauben Sie nicht, ich verkenne, worauf Sie aus

sind.

Asche, Asche —

Sie schüren und stochern.

Nichts da, weder Fleisch noch Knochen —

(…)

Aus dieser Asche steig ich

Auf mit rotem Haar

Und esse Männer ganz und gar.

 

Sylvia Plath 1

 

I.
Da steht sie: groß, furchtlos und selbstbewusst, breitbeinig, die Arme auf die Hüften gestützt, der Blick über ihr Publikum schweifend, entschlossen. So sehen Heldinnen aus! 
Doch so perfekt diese Nachbildung eines weiblichen Körpers anmutet, so perfekt ist auch ihr Makel: ihr Körper ist über und über von Haaren bedeckt, wie ein Tier. Ihre dunkle Haut und die unverhüllte, naturalistische Darstellung der Brustwarzen macht die Sache nicht besser. Birgit Diekers Beasty Girl (2002) ist eine Art Wolfsmädchen, das sich sämtlichen Darstellungskonventionen widersetzt, das uns irritiert und provoziert. In nichts entspricht sie dem, was wir kennen: Wenn wir uns die Körperhaare wegdenken, ist ihr Körper der einer modernen Frau, ihr Gesicht ähnelt dem der Künstlerin, selbst ihre Glasaugen tragen ihren Ausdruck. Und doch steht ihr Haarkleid wie eine Grenze zwischen uns. Wer hätte wohl den Mut sie zu berühren?
Diese „Abweichungen“ vom Kanon ästhetischer Normen erweisen sich aus einer feministischen Perspektive als subversive Strategie, deren kritisches Potenzial deutlich wird, wenn wir uns die historischen Voraussetzungen in Erinnerung rufen, die der Darstellung des weiblichen Körpers vorausgehen. Ästhetische Kategorien, die seit der Antike die Darstellung des weiblichen Akts in der westlichen Kunst bestimmen, dienen der Eingrenzung und Reglementierung. Innerhalb dieses Prozesses vollzieht sich die Umwandlung der „Frau“ in einen weiblichen Akt.[1] Damit ist nicht nur gemeint, dass einem „natürlichen“ Körper Grenzen gesetzt werden, sondern dass dieser von einer ästhetisierenden Hülle umgeben wird, die den Blick des Betrachters lenkt. Formale und kompositionelle Konventionen dienen dazu, den weiblichen Körper in ein Korsett von Reinheit, Vollkommenheit und Impermeabilität zu zwängen und seine Öffnungen zu versiegeln. Dadurch wird verhindert, dass die Grenze zwischen innen und außen, zwischen dem Selbst und dem Anderen verletzt werden könnte.
Alle Übergangsstadien wirken in diesem Sinne bedrohlich: Jeder Körper, jedes Objekt, das sich einer Klassifizierung oder Kategorisierung entzieht, bedeutet eine Gefahr für das bestehende Ordnungssystem. Die Grenzen der Kategorien, die zur Aufrechterhaltung dieses Systems eingesetzt werden (männlich/weiblich, innen/außen, etc.) sind dabei als empfindliche Randbereiche zu sehen, die sich in ihrer Flüchtigkeit ständig aufzulösen drohen. 
So manifestiert sich in der Überschreitung oder Durchdringung körperlicher Grenzen und Definitionen wie im Falle des Beasty Girl nichts weniger als eine Bedrohung der gesellschaftlichen Norm, die bis heute auf dem aristotelischen Ideal von Symmetrie, Ordnung und Klarheit basiert. Dabei stellt die Wahrnehmung dieses Ideals aus psychoanalytischer Sicht nichts anderes dar als die Illusion eines vollkommenen Subjekts, in der sich der Betrachter spiegelt. Der weibliche Körper steht dabei als Metapher für Trennungs- und Ordnungsprozesse, in denen sich die Bereiche des Selbst und des Anderen formieren. 
Besonders brisant wird die kritische Beschäftigung mit diesem „Ideal“, wenn Künstlerinnen dazu übergehen, den eigenen Körper zum Objekt ihrer Auseinandersetzung zu machen. Bildhauerinnen wie Louise Bourgeois, Eva Hesse und Lynda Benglis gehörten in den 1960er und 1970er Jahren zu den ersten, die mit ihren plastischen Arbeiten aus Latex, Gummi und Gips radikale Selbstinszenierungen formulierten. 
Auch Birgit Diekers Beasty Girl erweist sich als eine Selbstdarstellung der Künstlerin, deren Verfremdung wichtige Fragen aufwirft. Wenn sie, wie hier, die Selbstinszenierung zum Thema ihrer Arbeit macht, zielt sie nicht auf die Darstellung einer neuen „authentischen“ Weiblichkeit oder Identität, sondern auf eine Reflexion über das Verhältnis zum Bild der „Frau“ und ihrer eigenen gesellschaftlichen Situation, die sie selbst zum Bild macht.[2] Die Problematik der Künstlerin angesichts ihres eigenen Selbstbildes besteht jedoch darin, dass ihr als Autorin die Position als aktives (männlich gedachtes) Subjekt des Blicks zukommt und sie sich zugleich als dessen passives Objekt wahrnimmt.[3] Birgit Dieker entkommt diesem konventionellen Zwangsverhältnis, indem sie den eigenen Körper als Beasty Girl absichtlich dort positioniert, wo „Weiblichkeit“ gleichzeitig abgewertet und als Bedrohung wahrgenommen wird: im Bild der Frau als wildem, sexuell aktivem Naturwesen, das als Gegenbild zum kultivierten, aber passiven Ideal entworfen wurde. Der weibliche Körper erscheint als Monstrosität und funktioniert nicht länger als Projektion. Wenn die Künstlerin ihren Körper mit den historischen Kategorien in eins setzt, die dafür gesorgt haben, dass „Weiblichkeit“ herabgesetzt und diffamiert wurde, bewegt sie sich auf gefährlichem Terrain. Doch ihre Identifikation ist nur vordergründig: Tatsächlich nutzt sie die übersteigerte und verfremdete Selbstdarstellung als Beasty Girl für ihre eigenen Zwecke und geht mit ihrer behaarten Figur auf Konfrontationskurs zu einem System, in dem alles Nicht-Männliche das „Andere“ ist, gebunden an einen Körper, dessen „Mängel“ für die Unzulänglichkeiten seines „Andersseins“ (also seine „Weiblichkeit“) verantwortlich sind. Indem sie die Körperlichkeit ihrer Figur durch fein herausgearbeitete weibliche Attribute und eine fast tierische Körperbehaarung überbetont und diese stolz herauskehrt, bewegt sie sich an den Bruchstellen eines Systems, das nur über die permanente Bestätigung seiner Grenzen aufrechterhalten werden kann. Mit Beasty Girl liefert sie alles andere als ein Bild der Bestätigung, sondern verunsichert und brüskiert uns mit einer Selbstdarstellung, die so weit von den konventionellen Idealvorstellungen eines weiblichen Körpers entfernt ist, dass sie betretene Blicke provoziert und uns sprachlos macht.

Ganz ähnlich verhält es sich mit Diekers lederner Skulptur Bad Mummy (2005). In der Haltung einem klassischen Torso nachempfunden, präsentiert sich diese „Mutterfigur“ als ausgesprochen feindseliges Objekt. In ihrem martialisch anmutenden schwarzen Motorradanzug, der mit seinen Nieten, Reißverschlüssen und Stacheln archaische Riten der Hells Angels ebenso assoziiert wie die primitive Darstellung einer Venus von Willendorf, wird sie zur Inkarnation der abweisenden, schlechten Mutter, der man besser nicht zu nahe kommt. Nahrung und Fürsorge sind von ihr nicht zu erwarten. Damit widerspricht sie allen Vorstellungen von Mütterlichkeit, die das patriarchale Repräsentationssystem hervorgebracht hat, und erscheint zugleich als gepeinigte Figur, die sich ohne Kopf und Glieder, mit Stacheln versehen, aber bewegungsunfähig ihrer Leder-Haut erwehren muss.


Die Darstellung fragmentarisierter und metamorphisierter Körperbilder hat in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts eine lange Tradition. Bereits für die Surrealisten spielte die Auseinandersetzung mit Körpern und Objekten, die ihrer gewöhnlichen Funktionen entfremdet und mit sexuellen Assoziationen aufgeladen werden, eine zentrale Rolle. Dabei geht es um gewaltsame Verwandlungen, Verkleidungen und Verrückungen des Körpers, die es darauf anlegen, seine Grenzen zu sprengen und sein erotisches Potenzial auszuschöpfen. Die „Perversionen“, die in surrealistischen Kunstwerken durchgespielt werden, offenbaren das Anliegen, „sich so zu verhalten, dass der Körper nicht mehr der „natürliche“, verdinglichte, gegebene Körper ist, sondern ein „erfundener“ Körper (...).“[4] Diese Tendenz zur Fragmentarisierung und Fetischisierung – insbesondere des weiblichen Körpers – löste in der neueren feministischen Kunstgeschichtsforschung eine kritische Debatte aus, die sich auf zwei Deutungsansätze zuspitzt: Einerseits wird die bildliche Demontage und Zerstückelung von „Frauen“-Bildern als Angriff auf den realen weiblichen Körper interpretiert[5], während auf der anderen Seite die künstlerische Praxis der Fragmentierung eines abgebildeten Körpers als Dekonstruktion und damit als Möglichkeit verstanden wird, patriarchale, bürgerliche Totalitätskonzepte zu überwinden.[6] Ich folge der zweiten Position und möchte betonen, dass die künstlerische Darstellung von fragmentarisierten Körpern nicht mit der Zerstörung oder Verletzung wirklicher Körper gleichgesetzt werden darf, sondern ein subversives Potenzial birgt, das mit Derridas Dekonstruktionsbegriff am besten zu fassen ist. Vor diesem Hintergrund bedeutet „Dekonstruktion [...] im Gegensatz zu Destruktion [...] nicht die gewalttätige Verletzung oder Zerstörung eines „Ganzen“, sondern macht dieses sozusagen rückgängig, indem sie die Bedingungen seiner Herstellung thematisiert und die Verdrängungen offenlegt, die sich in ihnen verbergen.“[7] Das zerstückelte „Frauen“-Bild symbolisiert damit nicht die Zerstörung des weiblichen Körpers, sondern stört die Illusion einer stabilen „weiblichen Identität“. So lassen sich auch die kopflosen weiblichen Körper, die in diesem Zusammenhang immer wieder in der Kunst auftauchen, nicht als bestimmte Körper und Objekte identifizieren. Vielmehr sind sie vergleichbar mit Mutationen und Metamorphosen, die unheimlich und bedrohlich anmuten und jede Bestätigung von „Natur“ bewusst verweigern. Das trifft in besonderem Maße auf Birgit Diekers Bad Mummy zu, deren verstörende Wirkung nicht nur etablierte Weiblichkeitsentwürfe angreift, sondern mit der „Mutterfigur“ einer vermeintlich unantastbaren Ikone der westlichen Kunstgeschichte den Kampf ansagt.

II. 
Seit 2006 setzt sich Birgit Dieker verstärkt mit fragmentarisierten, verfremdeten und metamorphisierten Körpern auseinander, die sie aus gebrauchten Kleidern zusammennäht, schichtet und schneidet – ein Material, dessen Körperbezogenheit eine entscheidende Rolle spielt und das zugleich durch seinen Charakter (Stofflichkeit, Muster und Qualität) über ein besonderes, assoziatives Potenzial verfügt. Auffallend ist, dass die Künstlerin in diesen Figuren nicht nur Körperteile weglässt, sondern ihre Körper regelrecht aufbricht, um ihrer „Identität“ auf den Grund zu gehen. Sie bestehen aus Schichten, die sich wie Ablagerungen des Persönlichen zu Figuren verdichten. Dabei befördert sie mit bewusst gesetzten Schnitten ihr Innerstes nach außen. So werden unter der ästhetischen, perfekten Oberfläche, die diese Skulpturen wie eine Art Schutzhülle umschließen, Versehrtheiten und psychische Abgründe sichtbar. Für die Künstlerin ist es „die Suche nach einem Selbst, das unter den vielen Schichten von Erfahrungen und Geschichten verhüllt ist, eine Art ‚Herausschälung‘.“[8]

Die gleichsam arm- und kopflose Rosie (2007) ist eine solche Skulptur. Sie besteht aus einem perfekt durchmodellierten Körper, der unter unzähligen Lagen von übereinandergeschichteten Kleidungsstücken verborgen ist. So verhüllt, scheint die Figur nur aus Beinen und einer unförmigen Gestalt zu bestehen. Ein rosafarbener, geblümter Frotteesamt bildet ihre Außenhaut und vermittelt zunächst den Eindruck einer gemütlichen, vielleicht zur Naschsucht neigenden „Weiblichkeit“, die sich gern mit weichen Kissen und Kuscheltieren umgibt. Doch dieses unschuldige, naive Bild wird durch gewaltsame Eingriffe der Künstlerin regelrecht zerfetzt. Das rosa Blümchenmuster zeigt sich an vielen Stellen durch mehr oder weniger tiefe, teilweise auch brutal anmutende Schnitte bis ins Körperinnere aufgerissen und verletzt. Aus diesen klaffenden „Wunden“ quellen mehrschichtige Lagen von rotem Stoff hervor, der an der Stelle, wo das Herz sitzen müsste, eine immer dunklere Rotfärbung annimmt. Der Kopf bleibt unter der Stoffmasse verborgen. Die Beine dagegen sind am weitesten ausdifferenziert, bis hin zu den Zehen, die durch ein Loch in der Strumpfhose am linken Bein erkennbar werden. Das rechte Bein weist am Oberschenkel ebenfalls eine tiefe Wunde auf, die den Stoff der unterschiedlichen, für die Skulptur verwendeten Kleider erkennen lässt. 
Die Künstlerin findet ihr Material in Secondhandshops und spielt mit dem benutzten Charakter dieser Kleidung, die zum Inbegriff einer „zweiten Haut“ wird – als Schutz oder auch Maskerade, aber immer versehen mit der Geschichte derer, die sie einmal getragen haben. „Sie symbolisiert die Spannung zwischen Innen und Außen, zwischen Privatem und Öffentlichem, Verhüllen und Aufdecken“, so die Künstlerin[9], und verdeutlicht das, was sich im Innern verbirgt, was nicht durch die Hülle eines „ganzen“ Körperbildes nach außen dringt – seelische Verletzungen, Phobien, Widersprüche.
So verwendet die Künstlerin mit den gebrauchten Kleidern einen Werkstoff, der intimer nicht sein könnte. Spuren gelebten Lebens liegen in diesen Stoffen verborgen: in direktem Kontakt zur Haut sind Körpergerüche, Parfum oder auch Schweiß zurückgeblieben, Zeichen des Körpers – Liebe und Angst, Anstrengung und Freude. Dabei sind Kleiderstoffe eng mit Erfahrungen von Weiblichkeit verknüpft: „Das Gewand [...] erscheint vom Moment seines Gebrauches an als etwas Individuelles [...] Der Stoff von Kleidern ist in der Regel aus flexiblen, weichen Fasern gewebt. So kann er sich den Körperformen ideal anpassen, er kann wärmen und verhüllen. [...] Aber nicht nur seiner Anschmiegsamkeit wegen ist Stoff weiblich konnotiert, sondern auch weil er ein aufnahmefähiges Material ist, Flüssigkeit aufsaugt, sich verfärbt, Geruch annimmt und verletzlich ist.“[10] Diese Eigenschaften und die Tatsache, dass Stoff vergänglich ist, lassen ihn für skulpturale Belange zunächst wenig tauglich erscheinen. Doch sind es gerade der enge Bezug zum Körper, seine hautähnliche Qualität und nicht zuletzt seine geringe Wertigkeit (verglichen mit traditionellen bildhauerischen Materialien wie Marmor, Bronze oder auch Holz), die für Diekers künstlerisches Konzept wie geschaffen sind. 

Mit Anita (2011) hat Birgit Dieker eine weitere Skulptur geschaffen, in der die Inszenierung eines widersprüchlichen Frauenbildes zur Diskussion steht. Sie ist durch die legendäre Berliner Tänzerin Anita Berber inspiriert. In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts verkörperte sie die weibliche Verführerin, war öffentliche Person, gefeierte Sängerin und Femme fatale, die durch ihre Skandale und ihren Drogenmissbrauch ein frühes Ende fand.[11] Dieker interessiert die Diskrepanz zwischen öffentlichem Glamour und privatem Scheitern – eine innere Zerrissenheit, die an ihrem Körper verhandelt wird. 
In einer eleganten, selbstbewussten Pose, mondän aufgeputzt in einem Kokon aus goldenen Pailletten, präsentiert sie ihren Körper auf einem Barhocker, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, den Blick seitlich, kokett auf den Betrachter gerichtet. Und was für ein Blick! Das Auge herausgeschält aus glitzernden Stofflagen, übergroß, mit betonten Wimpern, während das zweite Auge unter der goldenen Paillettenhaut geschlossen bleibt. Doch auch Anita hat in ihrem Entstehungsprozess tiefe Verletzungen davongetragen, ist vom Leben gezeichnet und zugleich für ein Leben als Glamourgirl zurechtgemacht: Ihr Körper besteht aus unzähligen Schichten von Lurexkleidern, deren Glanz zum Kern hin immer stumpfer und dunkler wird. Ihr metallisch-glänzendes Paillettenkleid wirkt wie ein Panzer und ist dabei regelrecht in den Leib hineingeschnitten, sodass auch Teile des Körpers durch diese Eingriffe abgetragen, auf- oder weggeschnitten wurden. Die verbliebenen Extremitäten erscheinen wie verkümmerte schwarze Insektenbeine – eine Metamorphose, bei der mit dem verletzten Raupenkörper zugleich eine Frauenfigur zum Vorschein kommt: „Ein schillernder Körper, Kopf und Nacken wie im Kokon, auf dem Rücken fast ein Flügel: mit diesen dünnen, haarigen Beinen, präsentiert auf dem Hocker, wirkt sie wie ein aufgepiekstes Insekt.“[12]

Diekers Skulpturen sind in unmittelbarem Zusammenhang mit den Tendenzen der Abject Art zu sehen, ein Begriff, der in den 1980er Jahren eingeführt wurde, um eine Kunst zu erfassen, die sich mit Körperlichkeit in ihren tiefenpsychologischen und sozialen Dimensionen auseinandersetzt. Skulpturale Werke so unterschiedlicher Künstler wie Louise Bourgeois, Kiki Smith, Mike Kelley, Robert Gober und David Hammons haben eine Materialität gemeinsam, die als nieder oder minderwertig gilt: Stoff, Latex, Gummi, Haare und Wachs. Indem sie unmittelbar auf Körperfunktionen und Spuren des Körpers verweisen, sind sie eng mit gesellschaftlichen Tabus und Traumata, persönlichen Obsessionen und Phobien verknüpft, die unsere Vorstellungen von einem stabilen Körper-Ego unablässig torpedieren.[13]
Als Abjekt oder Verworfenes lässt sich der Anteil des Subjekts bezeichnen, der sich nicht als Objekt kategorisieren lässt und den es bereit ist auszustoßen. Die Objekte, von denen Verwerfung ausgeht, definieren die Schnittstellen zwischen dem Inneren und Äußeren des Körpers und damit die Grenze zwischen Subjekt (innen) und Objekt (außen). Das Verwerfen symbolisiert das Eingeständnis der notwendigen Beziehung des Subjekts zum Tod, zum Animalischen und zur materiellen Welt, indem es zugleich die Anerkennung und die Ablehnung von Körperlichkeit durch das Subjekt bezeichnet.
Wenn wir vor diesem Hintergrund noch einmal die Arbeiten Bad Mummy, Rosie und Anita betrachten, zeigt sich, dass Diekers Umgang mit den verworfenen Aspekten des Körpers sehr subtil angelegt ist und durch die Umsetzung abjekter Motivbereiche (Eingeweide, geöffneter Körper, Blut, Wunde, Verstümmelung) in Form vermeintlich unvorbelasteter Materialien (abgelegte Kleider oder Leder) eine Übertragung stattfindet, die uns zwar mit dem Unausweichlichen konfrontiert, zugleich jedoch eine Distanz zulässt, die uns vor dem Schlimmsten bewahrt. Bei Beasty Girl verfährt die Künstlerin umgekehrt, indem sie mit der Darstellung des eigenen Körpers als Akt ein vermeintlich „klassisches“ Thema wählt, um dieses dann durch eine Hülle aus Menschenhaar zu verfremden.

In ihrer gleichsam „haarigen“ Bodenskulptur Der innere Schweinehund (2005) bringt die Künstlerin das Verworfene inhaltlich und formal zur Deckung. Mit dieser Skulptur rückt sie uns regelrecht auf den Leib und rührt an unsere tiefsten Ängste und Empfindungen.
Der innere Schweinehund wirkt unheimlich, fremd und abstoßend, wie er da auf der Erde liegt. Ein großer Körper, struppig und braun, hilflos wie ein erlegtes Tier. Bei näherer Betrachtung erkennen wir, dass es sich um Eingeweide handelt, aber nicht fleischlich, viszeral, sondern eher von einer filzartigen, haarigen Oberfläche. Es ist die vergrößerte Nachbildung von Körperteilen aus dem Innern eines Menschen, die keine Rückschlüsse mehr auf seine Identität zulassen. Die Organe wurden von ihrer Hülle, der Haut, befreit, und liegen nun offen und ungeschützt vor uns: Lungenflügel, Herz, Magen, Darm, Nervenstränge, Speiseröhre und Gehirn. Dass sie hier als trockene Masse aus Menschen- und Tierhaaren nachgebildet wurden, steigert die Irritation und Verfremdung, welche die Künstlerin bereits durch eine stark vergrößerte Darstellung in ihre Skulptur hineingelegt hat. Gleichzeitig entsteht aus der Verwendung von struppigem, trockenem Material (Haar) für die Darstellung weicher, organischer Gebilde (Eingeweide) eine Steigerung des Abjekten. Das heißt, wir sind abgestoßen und angezogen zugleich, nicht zuletzt durch die psychische Wirkung, die das Objekt beim Betrachten auslöst. Die freigelegten inneren Organe deuten auf den Tod, ihre Sichtbarkeit ist erst im Augenblick des Todes gegeben. Das derart enthüllte Körperinnere verweist so unmittelbar auf das Verworfene: „Der Kadaver (...) ist das äußerste an Verwerfung. Er ist der Tod, der das Leben infiziert. Abjekt. Es ist nicht das Fehlen der Sauberkeit oder Gesundheit, das die Verwerfung hervorruft, sondern das, was die Identität, das System, die Ordnung stört. Was nicht die Grenzen, den Rang, die Regeln respektiert. Das Zwischending, das Zweideutige, das Zusammengesetzte.“[14]

Unter „innerem Schweinehund“ wird landläufig das verstanden, was unsere Gelüste und Bequemlichkeiten motiviert. Dieker jedoch wendet diesen Ausdruck augenzwinkernd tolerierten Schwachwerdens in ein Bild, das nicht harmlose menschliche Schwächen, sondern persönliche Abgründe und die Brüchigkeit eines Systems offenlegt, das unsere Vergänglichkeit leugnet und die Unkontrollierbarkeit des Körpers als Bedrohung definiert. Ihr Innerer Schweinehund macht uns unsere eigene Körperlichkeit und damit unsere Hinfälligkeit erschreckend und unverholen bewusst. 

Im Ausstellungstitel selbst steckt bereits ein wichtiger Hinweis auf diesen Zusammenhang. Mit „The Big Striptease“ zitiert Dieker eine Stelle aus Sylvia Plaths Gedicht Lady Lazarus, in dem die Dichterin den Körper des lyrischen Ich im Augenblick ihres selbstgewählten Todes beschreibt. Der Selbstmord gelingt nicht. Ihre Rettung wird zur öffentlichen Darbietung, ihr Suizid zu einer Inszenierung – zur Kunst: „Sterben ist eine Kunst, wie alles andere auch. / Ich kann es besonders gut.“[15] Lady Lazarus, die vom Tode Wiedererweckte, die Gerettete, spricht über ihren Körper wie über ein fremdes Objekt: „Ein wandelndes Wunder, sozusagen, meine Haut / Wie ein Nazi-Lampenschirm strahlend, / Mein rechter Fuß / Ein Briefbeschwerer, / Mein Gesicht, nichtssagend / Feines jüdisches Leinen.“[16]
Ihr Körper ist von einer Stofflichkeit, die in feinen Schichten angelegt ist und sich freischälen lässt, wie Diekers Stoff-Skulpturen: „Schäl mich aus diesem Mundtuch / Ach Feind / [...] Wieviel Millionen Flusen. / Erdnuß mampfende Massen / Drängen herein, wollen zusehen, / Wie sie mich auspacken, nacktmachen. / Zum großen Striptease Was darunter zum Vorschein kommt, ist ein Ich, das sich nicht fassen lässt: „Ich bin Ihr Werk / Ihr Wertgegenstand, / Das Baby aus reinem Gold, / Das schmilzt zu einem Schrei.“[17] Bei Sylvia Plath zerfällt ihr Körper zu Asche, um dann als rothaariger, männermordender Vamp wiederaufzuerstehen. Und auch wenn in Birgit Diekers „Striptease“ die Hüllen fallen, kommt eine vielschichtige Identität zum Vorschein, die nie mit der Außenhaut identisch ist, sich in unserer Vorstellung ständig bewegt, zuckt und verändert, wie eine Raupe in ihrem Kokon. Doch der Falter entpuppt sich als ein Wesen, das sich allzu früh versengt hat am Feuer eines verführerischen Lebens, zu verlockend, zu hell, zu laut – das Baby aus reinem Gold – Glamour und Tod in einer Person – und nicht zu fassen.


 

[1] Vgl. Lynda Nead, The Female Nude – Art, Obscenity and Sexuality, New York/London 1993/1992.

[2] Dabei kann nicht nachdrücklich genug betont werden, dass es keine „wesenhafte“ Weiblichkeit gibt, die dieser Bildwerdung vorausginge und die sich als ein feministisches Bewusstsein wiedergewinnen ließe. So findet auch die Auseinandersetzung der genannten Künstlerinnen entlang der Konstruktionen des „Weiblichen“ statt, die der bürgerlich-patriarchale Repräsentationsapparat hervorgebracht hat.

[3] Oder, um John Berger zu zitieren: „Männer handeln und Frauen treten in Erscheinung. Männer sehen Frauen an. Frauen betrachten sich selbst, wie sie angesehen werden. Der überprüfende Blick der Frau auf sich selbst ist männlich – und das Überprüfte weiblich. So macht die Frau sich selbst zum Objekt und dabei vor allem zu einem Objekt des Sehens: zu einem Blick.“ (Eigene Übersetzung). Vgl. John Berger, Ways of Seeing, Harmondsworth 1987/1972, S. 47.

[4] Xavière Gauthier, Surrealismus und Sexualität. Inszenierungen der Weiblichkeit, Wien/Berlin 1980, S. 204.

[5] Vgl. Renate Berger, „Pars pro toto. Zum Verhältnis von künstlerischer Freiheit und sexueller Integrität“, in: Dies.: Der Garten der Lüste, Köln 1985, S. 150–199.

[6] Vgl. Sigrid Schade, „Der Mythos des ‚Ganzen Körpers‘. Das Fragmentarische in der Kunst des 20. Jahrhunderts als Dekonstruktion bürgerlicher Totalitätskonzepte“, in: Barta, Breu et al. (Hg.), Frauen. Bilder. Männer. Mythen, Berlin 1987, S. 239–260.

[7] Vgl. ebd., S. 125.

[8] Birgit Dieker im Gespräch mit der Autorin am 26. Juni 2012.

[9] Zit. n.: Moritz Woelk, „Birgit Dieker“, in: Selected Artits – Stipendiatinnen und Stipendiaten des Arbeitsstipendiums für Bildende Kunst des Berliner Senats 2008, Berlin 2009.

[10] Monika Wagner, Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2001, S. 88.

[11] „Die Berber zog Skandale förmlich an, sie nahm Morphin und Kokain, trank pro Tag eine Flasche Cognac und prügelte sich mit jedem, der ihr quer kam. (...) Ihre oft nackt dargebotenen Tänze mit Titeln wie „Kokain“ oder „Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“ führten immer wieder zu tumultartigen Szenen während der Auftritte. Bald war sie bekannt und ebenso skandalumwittert und berüchtigt.“ Zit. n.: Ricarda D. Herbrand, Göttin und Idol. Anita Berber und Marlene Dietrich, 2003, siehe http://germanistory.worteinheiten.de/wiss/drogen.htm

[12] Birgit Dieker im Gespräch mit der Autorin am 26. Juni 2012.

[13] Der Prozess des Verwerfens (abjection) fällt in die Zeitspanne zurück, die die Schwelle zum Spracherwerb des Kindes markiert und seinen Übertritt in die symbolische Ordnung bezeichnet. Der Sinn des Verwerfens besteht darin, dass nur durch die Abgrenzung des ‚reinen‘, sauber erscheinenden Körpers der Eintritt in die väterliche Ordnung und damit der Erhalt einer geschlechtlichen und psychischen Identität möglich ist. Durch die wiederholte Verwerfung werden Körpervorgänge Stück für Stück in signifikatorische Prozesse eingebunden, in denen Bilder, Wahrnehmungen und Empfindungen mit ‚ideellen Repräsentanten‘ und Signifikanten verknüpft und durch sie repräsentiert werden. Dabei ist wichtig, dass das Subjekt, um eine beständige Identität zu erlangen, einen Teil seiner selbst verleugnen muss. Unter diesen Voraussetzungen bleibt jede nun erworbene Identität von provisorischem Charakter und ist ständig in Gefahr zusammenzubrechen oder sich aufzulösen.

[14] Eigene Übersetzung. Vgl. Julia Kristeva, Powers of Horror. An Essay on Abjection, London/New York 1982, S. 4.

[15] Vgl. Plath, 2008 (wie Anm. 1), S. 43.

[16] Vgl. Plath, 2008 (wie Anm. 1), S. 41.

[17] Vgl. Plath, 2008 (wie Anm. 1), S. 42/43.