Die Autopsie des Schönen

Ellen Heider



Technische Perfektion, sinnliche Materialität und kompositorische Ausgewogenheit bestimmen das skulpturale Werk Birgit Diekers. Es sind die klassischen Kriterien des Mediums Skulptur, die die Künstlerin in zahlreichen Arbeiten virtuos erfüllt. Im Mittelpunkt ihres künstlerischen Interesses steht dabei der menschliche Körper. 
In seiner Ganzheit oder als Fragment begriffen, übersetzt die Künstlerin ihn in plastische Formen, verfremdet ihn durch Vergrößerung, Vervielfältigung und Verwendung körpernaher und -ferner Materialien. Es ließen sich vielfältige Annäherungsweisen nennen, mit denen zeitgenössische Künstlerinnen den menschlichen, meist weiblichen Körper gestalten und deuten. Fotografie und neue Medien dienen vielen als probates Mittel. Doch hält Birgit Dieker dieser Verlockung Stand. Vielmehr erschließt sie sich einen tradierten ästhetischen Bereich, der sich als faszinierendes Medium für die Thematisierung des Körpers erweist.
Der Körper im Spannungsfeld zwischen biologischer Bestimmung und gesellschaftlicher Prägung ist seit langem Bestandteil theoretischer Diskurse wie auch künstlerischer Reflexionen. Berührt werden hier medizinische und psychologische wie auch anthropologische und kulturwissenschaftliche Aspekte. Innerhalb dieser Diskussion bezieht Birgit Dieker mit formal wie inhaltlich prägnanten Werken Position. Ihre Arbeiten hinterfragen auf scharfsinnige, nicht selten ironische Weise die stete Aufwertung des Körpers, der mehr und mehr zum Medium der Selbstverwirklichung mutiert. Es finden sich Anspielungen auf verschiedenste Techniken zur Körperperfektion wie Medizin, Kosmetik, Sport und Mode. 

Ausgehend meist vom weiblichen, auch vom eigenen Körper, verzerrt oder verkehrt Birgit Dieker das gewohnte Bild des Körpers: Sie schafft Mutantenwesen von archaischer Körperlichkeit (Beasty Girl), kehrt Inneres nach Außen und vice versa (Kleine Fontäne), präsentiert Eingeweide in sportiver Optik (Organsack) oder deklariert Kleidungsstücke zum Stellvertreter der menschlichen Gattung (Drei Grazien). Die Materialvielfalt der Skulpturen reicht dabei von Realien und Werkstoffen der Alltags- und Industriewelt über menschliches Haar und Leder bis hin zu Textilien und Kurzwaren aller Art. Fern der Medien und der Mode strahlen die Werke Sinnlichkeit, Humor, aber auch Schrecken und Beklemmung aus und beschreiben poetische, ironische und zugleich befremdliche Situationen. 
Seit Urzeiten dient der weibliche Körper als Projektionsfläche männlicher Sehnsüchte und Ideale. Respektlos und selbstgewiss tritt Birgit Dieker diesen Vorstellungen entgegen. So kann die Skulptur Drei Grazien als Spiel mit den männlichen Erwartungen und als Paraphrase auf die weibliche Erotik gelesen werden. Das fetischistische, an sich körperverschönernde Accessoire des Mieders tritt hier, über Boxsäcke gespannt, als unförmiges Trio in Erscheinung. Es sind fleischgewordene, kopf- und gliederlose Zeugen jahrelanger Nutzung, die weniger Erotik denn peinlich berührende Intimität ausstrahlen. Das Kreatürliche des weiblichen Körpers, der Alterungsprozess und die physiologischen Vorgänge halten Einzug in ein neues Frauenbild. Birgit Dieker operiert mit ein- fühlsamem Humor, entsexualisiert Bilder der Frau und gibt den Körper- und Schönheitskult der Lächerlichkeit preis. Eine neue Blickweise auf erotische Fetische zeigt auch die Arbeit Kleine Fontäne, eine ursprünglich für Strumpfmode präparierte, auf die Beine reduzierte Schaufensterpuppe. Doch wird die Ästhetik des fragmentierten Körpers gestört: Anstelle eines modischen Strumpfes überzog Birgit Dieker sie mit einer schlicht weißen Strumpfhose und einem kunstvollen Geflecht blauer Kordeln, die den Verlauf der Adern suggerieren. Provokant konfrontiert die Künstlerin ihr Objekt mit den Bemühungen der Schönheitschirurgie, die organische Natur aus der Erscheinung des Körpers auszuschalten. Mittels der sinnlichen Beschaffenheit des Materials und des ästhetischen Lineaments der venösen Gefäße führt die Kleine Fontäne die idealisierte Schönheit ad absurdum.

Mit den gängigen Vorstellungen des weiblichen Körpers bricht auch die lebensgroße Figur Beasty Girl, die Birgit Dieker in einem aufwendigen Prozess mit einem Filz aus Menschenhaar und Schafwolle bezog. Der ideale Körper gerät in Konflikt mit dem grotesken Körper: Er erfährt durch seine Behaarung eine Wendung ins Archaische, so dass bei aller Intimität der voyeuristische Blick auf die weibliche Gestalt gestört wird. Auch das Herabsteigen der Statue vom Sockel, die Befreiung aus der Distanz des Kunstraums in eine scheinbare Interaktion mit dem Betrachter, schafft in der unmittelbaren Konfrontation Verunsicherung. Innerhalb der Körperdiskurse nehmen die Polarität von Innen und Außen, die Grenze von Sichtbarem und Unsichtbarem eine bedeutende Rolle ein. Postuliert wird eine Entsprechung von Körper und Seele, von äußerer Form und innerem Zustand, der nicht zuletzt von Körperfunktionen und -abläufen bestimmt wird. Mit wissenschaftlicher Neugierde lenkt Birgit Dieker in einer Reihe von Anatomiearbeiten den Blick durch die Körperoberfläche in das Körperinnere, macht Imaginäres vor- und darstellbar. 
In dem Werk Organsack isoliert sie menschliche Eingeweide und übersetzt sie in eine überdimensionale Skulptur. Sie transplantiert sozusagen menschliche Organe und implantiert sie in einen visuell und haptisch erfahrbaren Kontext. Angeregt durch anatomische Bilder und Modelle gilt das Interesse der Künstlerin der Fragmentierung des Körpers und der sezierenden Methodik der Medizin. Geweckt werden Erinnerungen an anatomische Wachsmodelle des 18. Jahrhunderts, eine Errungenschaft der Naturwissenschaften, die von großer Bedeutung für die kulturelle Entwicklung der Gesellschaft werden sollte. Zu didaktischen Zwecken entstanden Serien anatomischer Module in Originalmaßstab oder Vergrößerung, die zur Veranschaulichung der Beziehung zwischen den Organen auseinander genommen werden konnten.
Der Organsack bildet eine zeitgenössische Variante dieses Phänomens. Wie seine wächsernen Vorfahren besticht er durch seine technische Perfektion Jedes Organ wurde maßstabsgetreu und mit akribischer Sorgfalt in Kunstleder nachgebildet. Das artifizielle, makellose Material wie auch die poppige Farbigkeit der Lungen, Nieren, Därme etc. lassen Glanz und Glamour der Werbeästhetik assoziieren. Natürlichkeit wird nicht einmal vorgetäuscht, vielmehr scheint das Objekt von der verführerischen Aura eines wertvollen Konsumartikels umgeben zu sein. Die Verbindung der einzelnen Organkissen mit trendgemäßen Klettverschlüssen ist im Zeitalter der modernen Transplantationschirurgie nur folgerichtig. Birgit Dieker interpretiert die Organe als Versatzstücke, den Körper als Behälter austauschbarer Einzelheiten. 
Auch mit der Skulptur Heartware tritt die Künstlerin dem Betrachter in ästhetischer Perfektion entgegen. Sie thematisiert das kulturgeschichtlich bedeutsamste Organ das Herz. Lange Zeit als Sitz der Seele, der Liebe, der Gefühle und des Geistes angesehen, konnotiert Herz heute – bedingt durch die gesellschaftliche Forderung nach ewiger Schönheit und Gesundheit – vielmehr Medizin, Sport und Fitness. Diesem Bedeutungswandel verleiht die Künstlerin faszinierende Gestalt Das Symbol der Liebe erscheint hier sechsfach geklont und in die sterile, technoide Formensprache polierten Edelstahls übersetzt. Zunächst stellt es sich als abstrakte Formation dar, bevor der organische Charakter zu Tage tritt.
Kardio, ein siamesischer Zwillingsturnschuh, referiert ebenfalls auf das Motiv des Herzens. Nicht das populäre Symbol der Liebe in stilisierter Form wählt die Künstlerin, sondern den in zwei Hälften geteilten Hohlmuskel in seiner plumpen, organischen Erscheinung. Die Füße werden von zwei Herzkammern umfasst und zwingen den Träger zur synchronen Benutzung. Der Sportschuh dient nicht mehr der raschen und komfortablen Fortbewegung, sondern hemmt den Benutzer im leistungsorientierten Wettbewerb schneller, höher, weiter wie ein Klotz am Bein. Das Unisex-Requisit sportlich-modischer Lebensform wird in seiner Funktion ad absurdum geführt wird.
Eine Sonderstellung innerhalb der sonst rein skulpturalen Körperbilder Birgit Diekers nehmen die, in Vitrinenrahmen gefassten Anatomiestudien ein. Es sind Abbilder des menschlichen Blutkreislaufes und anatomischer Details, die den Blick auf unsichtbare Vorgänge und Zyklen im Körperinnern lenken. In der Technik filigranen Intarsien vergleichbar, sind sie sorgsam aus Blattgold und -silber zu ästhetischen Schautafeln gelegt. Es ist ein sinnfälliges Spiel mit der Historie des Materials, wurden Gold und Silber doch in der Alchemie als Heilmittel eingesetzt. Und noch heute findet Gold Verwendung in der Homöopathie. Die aufgrund der Oxidation geflammt erscheinenden Goldfolien beginnen vor dem Auge zu flimmern, lassen uns pulsierendes Blut in den Adern und den Wechsel von Kälte und Wärme spüren. Ähnlich einem Röntgenbild erscheint der Schatten im Bildhintergrund als farbiger Schimmer. 

Kleidung als bildnerisches Mittel und verstanden als Inbegriff der ‚zweiten Haut‘ kommt in dem Objekt Hide and Seek zum Einsatz. Bereits der Titel verweist auf die Bedeutung der Kleidung als Hülle, in der sich der Körper als Leerstelle manifestiert. Sie dient dem Schutz, der Maskerade, dem Rollenspiel. Sie symbolisiert die Spannung zwischen Innen und Außen, zwischen Privatem und Öffentlichem, Verhüllen und Aufdecken. Hide and Seek besteht aus zahlreichen Kleidungsstücken, die, nach den Kriterien männlich, weiblich, Ober-und Unterbekleidung übereinander geschichtet, die Füllung einer transparenten Kunststoffmatratze bilden. Die Hüllen werden zum Kern. Die Matratze ist aufrecht an die Wand gelehnt, so dass der Betrachter Mann und Frau – stellvertreten durch die Kleidung – gegenüber steht. Hüte und Mützen bilden die Köpfe, Jacken, Pullover und Blusen den Rumpf, Hosen und Socken Beine und Füße. Die Matratze lässt die Konfrontation zu einer intimen Begegnung werden, ist sie doch der Ort des Schlafs, Traums und der Sexualität. Dabei lassen die dicht gedrängten Körperhüllen im Innern weniger an süße Träume oder wohlige Zweisamkeit denken, denn an bedrückende Enge und an ein physisches wie psychisches Gefangensein. 
Diese Bedrängtheit, die geschlossene Form löst sich in der tosenden Dynamik der raumgreifenden Installation Twister gänzlich auf. Unzählige Kleidungsstücke fliegen, von einem imaginären Wirbelsturm erfasst, in zwei sich konzentrisch umspielenden Strängen in die Lüfte. Wie im Schleuderwirbel der Waschmaschine wird die Kleidung durch unsichtbare Kräfte geformt und in eine bewegte Farbmasse verwandelt. Auch auf dem Boden platzierte Kleiderstapel werden von dem Wirbelwind mitgerissen. Es scheint, als sei hier eine Naturgewalt außer Kontrolle geraten. Skulptur ist – wie auch diese – gemeinhin statisch, verändert sich lediglich durch den Wechsel des Tageslichts und das bewegte Auge des Betrachters. Birgit Dieker bricht den Stillstand von Skulptur mittels sich in den Raum ausdehnender Formen und bewegter Oberflächen auf. Doch gilt das Interesse der Künstlerin nicht nur den formalen Bedingungen von Skulptur. So lassen sich auch hier Bezüge zu aktuellen Themen von gesellschaftlicher Relevanz entdecken. Die Zweistrangigkeit des Wirbels kann als Anspielung auf die Doppelhelix der DNA gelesen werden. Der genetische Code findet in der Kleidung als Stellvertreter des menschlichen Körpers und als Informationsträger des Individuums seine Entsprechung. Darüber hinaus verweist schließlich die Doppelhelix auf das Innerste des menschlichen Körpers, den Zellkern, wodurch Fragen zur gegenwärtigen Diskussion über die Genforschung und Reproduktionsmedizin berührt werden.
Die Werke Birgit Diekers bezeugen eine meisterhafte Beherrschung der Technik und einen sensiblen Umgang mit dem Material. Ihr Vokabular schöpft sie aus dem reichen Motivfundus des menschlichen Körpers und seiner zeitgenössischen Fetische. Der Körperkult, wie er durch Medien und Werbung oktroyiert und in Medizin, Kosmetik, Mode und Sport praktiziert wird, dient zugleich als inspirierende Muse und streitlustiger Gegenspieler ihrer künstlerischen Reflexion. Ein erster, unbefangener Blick auf die Objekte, ihre technische Präzision und die Glätte der Oberflächen erzeugen den Eindruck des Schönen und Vollkommenen. Doch erweist sich diese Vorstellung bei näherer Betrachtung als Illusion. Denn unterhalb der Oberfläche offenbaren sich ironisch- makabere Anspielungen, die Angst und Unbehagen evozieren. Die Diskrepanz zwischen äußerer Erscheinung und dem dahinter Verborgenen, akzentuiert zudem durch hintergründige Titel, markiert das Spannungsfeld, in dem sich Form und Inhalt der Werke Birgit Diekers bewegen.