Die Kunst der Körper der Künstlerin

Hendrik Rost



In einem Roman Kenzaburô Ôes gibt es eine wunderbare Szene, in der der Erzähler mit seiner künftigen Geliebten schwimmen geht. Nahm er sich zunächst vor, ihr als toller Hecht davonzuschwimmen, musste er feststellen, dass sie schneller kraulen kann als er. Zwar hängt sie ihn nicht ab, ist ihm jedoch immer voraus. Er selbst lässt den Abstand nicht schwinden oder größer werden, da er knapp hinter ihr schwimmend ihren Schritt vor Augen hat und, erschreckt und fasziniert, das über den Rand des Badeanzugs hervorsprießende Schamhaar sehen kann.
In Japan gibt es ein erstaunliches Tabu. Die Darstellung von Körperbehaarung, geschweige denn Schamhaar, ist ganz unmöglich. Körperlichkeit selbst ist heute weniger verpönt und wird in der Popkultur, in Mangas, den japanischen Comics, auf gelegentlich extreme Weise gezeigt. Schock und Befriedigung sind nahe verwandt. Das Verbotene gefällt sich als geheimes Gelüst, und das Tabu ist seine stärkste Quelle selbst, weil der Konflikt zwischen Trieb und Auslöser bei so alltäglichen Dingen ständig eintreten muss. Woher rührt deine Fixierung auf Schamhaar eigentlich, fragt die Schwimmerin den Erzähler nach diesem Duell, um ihren Sieg noch auszuschmücken, indem sie zugibt, das verbotene Verlangen bedient zu haben. 

Beasty Girl käme in Japan selbstverständlich auf den Index. Sie würde ein heimlicher Star und bekäme einen eigenen Untergrundcomic, in dem sie mit Hairy Hank gegen Bald Betty kämpfen würde. In den USA würde sie allerdings eher als Bild der europäischen Frau Aufsehen erregen, die sich weder die Beine noch die Achseln rasiert – weniger Tier als partiell ungepflegter Mensch. Die Beastie Boys haben es hingegen zu amerikanischen Helden gebracht. No sleep till Bruckland, wie Armin Mueller-Stahl als Taxifahrer in Night on Earth sagte, in naiver Verkennung all der wirklichen Gefahren, die er da im Munde führt. Das Wilde an ihnen war die Pose des Ungezähmten, Bösen, die heute längst zu einer hohen Kunst geworden ist. Die allgegen-wärtigen Hängehosen der Jugendlichen bilden etwas Gefährliches nach, stilbildend dafür waren die Hosen amerikanischer Straftäter, die ihnen, des Gürtels beraubt, auf halb acht hingen. Getragen werden sie als konventionelles Zeichen des Subversiven, zunächst von Hip-Hop-Musikern, dann auch im Kinderzimmer. 
Alles lässt sich kopieren. Nur nicht das stets lebendige Tier in einem selbst, indem man es als Mensch tarnt. Beasty Girl ist das perfekte Bild dafür. Die Schönheit der klassischen Statue rührt von einer Ebenmäßigkeit her, der Grazie einer Haltung, einer Lieblichkeit. Sie berührt, weil sie sich als Ausdruck einer Sehnsucht präsentiert, in einer bestimmten Pose innezuhalten, die besonders gelungen war, aber unweigerlich verloren ist. Die steril kalten Schaufensterpuppen – so aufreizend sie auch gruppiert sein mögen – können keine emotionale Wirkung haben, weil sie ihrer Funktion nach bloße Träger von Kleidung sind. Warum folgen Menschen – Frauen – Gesetzen von Schönheit, für die sie bis zur Selbstvernichtung leiden müssen, wenn das Ergebnis sie weniger liebenswert erscheinen lässt? Sie entleiben sich in ständiger Beschäftigung mit ihrem Körper, was sie auf das Niveau jener Trägerpuppen hinabziehen muss.

Die feinen Muster der Strümpfe der Kleinen Fontäne sind durch das schadhafte Gewebe der Adern ersetzt, wie es filigran und untrennbar mit seiner Trägerin verbunden ist – mit der unleugbaren Tatsache des Körpers, der einerseits von Mängeln, andererseits aber auch von niemals ganz zu leugnender Grazie und Würde übersprudelt. Darunter also leiden Frauen, dem leibhaftig empfundenen Mangel. Männer leiden darunter, dass jene Körper nicht ihre sind (dass sie selbst körperlos sind). Wie anders verhält sich da die Kunst, die ebenfalls verrückt ist nach Schönheit, nach Schönheiten auf der Kippe? 
Das wilde Mädchen ist trotz ihres Fells ausgeliefert. An ihrer Haltung ist nichts Kokettes, und die Pose, die sie eingenommen hat, ist keine Aufforderung, keine Drohung. Aber sie ist auch nicht verschreckt wie ein Wolfskind aus dem 19. Jahrhundert, das in die Zivilisation gezerrt wurde oder einer jener Hagenbeckschen Wilden, die als Vorgänger der Zootiere auf Exotentournee geschickt wurden. Sie scheint selbst nicht so genau zu wissen, was sie ist, und nimmt solange hin, dass es sie gibt, denn sie hat keine realen Vorbilder.

Heartware ist die monströse technoide Gegenversion zu Beasty Girl. Von einigen Dinosauriern weiss man, dass sie mehrere Gehirne hatten, eins im Kopf, ein weiteres im Rücken und vielleicht noch eins im Schwanz. Jedes für sich genommen war klein und kaum mehr als ein Nervenbündel, das seine Umgebung steuerte, aber sonst zu wenig fähig war. Das Wesen funktionierte bloß im Zusammenspiel seiner Hirne. Die stählernen Herzen pumpen sich gegenseitig an, eins das andere, und endlos geht es weiter, um als Relais den Kreislauf in Gang zu halten. Die Kraft der vielen Herzen potenziert aber nicht die Leistungsfähigkeit des Gefühls, das mit dem Herzen für alle Zeit verbunden ist. Die Menge an emotionalen Bypassen wie der bloß medial vermittelten Anteilnahme, dem Gerede und den Aussetzern der Kommunikation, reduziert das Herz zu einem technischen Objekt, das wild pumpt, ohne dass die eigentliche Leistung – zu leben und dem Leben zugeneigt zu sein – soviel Aerobic erforderte. Sechs Herzen, die miteinander verbunden sind, treffen wohl genau die Zahl an Beziehungen, die man mit Hingabe bewältigen kann. Sie bilden das emotionale Geflecht eines Lebens. Die fehlenden Anschlüsse weisen darauf hin, dass auch in diesem überschaubaren Gemenge wie in jedem geschlossenen System Entropie herrscht, ein allmähliches Zunehmen der Unordnung, in der doch stets nach dem einen Herzen gesucht wird.

Die Funktion der menschlichen Restbehaarung, in Japan und überall sonst auch, ist dieselbe. Sie schützt den Kopf vor dem Auskühlen und schreckt das jeweils andere Geschlecht auf, indem es den Blick auf die wichtigen Körperstellen lenkt, die es sacht verhüllt. Das umgekehrte Warndreieck der Frau, als Motiv wiederholt im Achselhaar unter dem erhobenen Arm, steht gegen die Brustbehaarung des Manns, die im besten Fall die Muskulatur der Brust hervorhebt, indem sie den Schatten dazwischen betont. Die üppige Tracht von Beasty Girl nivelliert diese Art von Reizen im Overkill. Zuviel des Guten. Aber innere Schönheit, von der man immer wieder hört, ist unter einer hässlichen und auch der ungewöhnlichen Verkleidung enorm schwer auszumachen. 

Beasty Girl ist trotzdem ganz sicher kein Freak. Unter den vielen Schritten der evolutionären Entwicklung vom Zellhaufen zum Menschen, von der Amöbe zum Großstadtbewohner steht sie auf der Stufe einer Schwester, die nur so geringfügig älter ist – wie der Fisch, das Hühnchen, die man in den Phasen seiner Entwicklung einmal kurz gewesen ist –, dass sie an der Gegenwart teilnimmt, indem sie berührt, verstört und anzieht. Die Kunst bei der Übertreibung ist, die Verwandtschaften immer klar erkennen zu lassen. Bei der Betrachtung der Körper von Birgit Dieker, ihren Objekten, ist das Herz nicht zu halten, macht einen Sprung. Es will gefordert werden und wird es endlich.