Die Schönheit der Demut

von Eckart Britsch



Wer hat diesen Abgrund erdacht
und ihn nach oben geworfen?
Julian Przybos

Die erste Arbeit, die ich von Birgit Dieker sah, war Der große Kurfürst. Anfänglich war ich ganz auf die schwebende Form fixiert. Ich dachte an Joseph Brodskys Hommage an Marc Aurel und seine Überlegungen zum Reiterstandbild in der Geschichte. Seine Beobachtung, dass das 20. Jahrhundert mit Befremden auf das Reiterstandbild blickt, lässt sich zusammenfassen: Seit die Politiker nicht mehr reiten, sondern gefahren werden, ist es um sie geschehen, weil sie nicht mehr erhobenen Hauptes in die Schlacht ziehen.

Die Politik der Shareholder-Values, die für viele tödlicher ist als alles, was an Schlachten geschlagen wurde, erlaubt nicht mehr eine Repräsentation zu Pferde. Pferde verkörpern Imperien, Männlichkeit, Natur. So bedeutet etwa ein unter seinem Reiter sich aufbäumendes Ross, dass jener im Kampf gefallen ist: reiten, reiten, reiten, in die Nacht, in den Tod. Ruhen alle vier Hufe auf dem Sockel, wissen wir, dass sein Herrchen friedlich im Bett gestorben ist. Ist ein Bein hoch- gewinkelt, dürfen wir daraus schließen, dass der Reiter an den Wunden starb, die er sich im Kampf zugezogen hat. Tief angewinkelt heißt, dass er lange gelebt hat und durchs Dasein getrabt ist. Wenn Richard III sagt: A horse, a horse, my kingdom for a horse erkennen wir die Klasse, die das Pferd in der Geschichte und Mythologie besitzt. Es führt das Königreich der Tiere an und verbindet uns mit der Vergangenheit, ohne die es keine Zukunft gibt.

Heute, wo anonyme Entscheidungen die Vernichtungsorgien des 20. Jahrhunderts bestimmen, steigt keiner mehr aufs Pferd. Der große Kurfürst von Birgit Dieker radikalisiert die Entleerung der Repräsentation. Dieser Souverän ist absolut einsam in der Welt. Er hat nicht seinesgleichen. Er kann sich allein dadurch in der Schwebe halten, dass er alles andere negiert: Ich bin ein Topfkratzer, der gegen die universelle Vernichtung protestiert. Sein metallischer Schimmer erinnert uns an die Epiphanie der Wahrheit bei Paul Celan: Das Geschriebene höhlt sich, das/Gesprochene, meergrün,/brennt in den Buchten,/in den/verflüssigten Namen/schnellen die Tümmler,/im geewigten Nirgends, hier,/im Gedächtnis der über-/lauten Glocken in – wo nur?,/wer/in diesem/Schattengeviert/ schnaubt, wer/unter ihm/schimmert auf, schimmert auf, schimmert auf? Monumentale Abwesenheit, die vernichtete Welt des repräsentativen Gefühls, der Tod des Empfindungslebens, die Grausamkeit der inneren Leere. Der große Kurfürsterscheint als Double von Jeanne dArc, die aus unendlichen Vergewaltigungen immer wieder aufs Neue als Jungfrau aufersteht. Durch ein leises Säuseln im Wind flüstert er uns zu: Jeder tote Kamerad war umsonst. Dieser Kurfürst ist kein Nachfolger und Abbild der Disciplinati, nach denen am Ausgang des 14. Jahrhunderts Frauen als Hexen verbrannt wurden. Ingmar Bergman führt diese Geschichte in Das siebte Siegel vor. Ein Gauklerpaar, das mit zärtlicher Grazie durch die Bilder des Grauens tänzelt, verkörpert, dass der Lebenswille nicht zu brechen ist.

Der Tatbestand lautet: je stärker die Idylle nach außen, desto mehr Schwein nach innen. Je mehr Biedermeier nach außen, desto gnadenloser Hass und Härte nach innen. In der Geschichte oszilliert die normale männliche Prostitution immer zwischen Aneignung und Enteignung. Indem Birgit Dieker den großen Kurfürsten als einen ohne Bodenhaftung vorstellt – mit beiden Beinen fest in den Wolken – löst sie seine Grenze und seine Souveränität auf. Wie bei Ezra Pound ist Identität eine Hülse im Wind. Es erinnert mich an die Tatsache, dass wir den Tod nur einmal üben können – als Anfänger, wenn wir dort ankommen.

Auch die Geschlechterspannung erscheint als seltsame Materie. Hier inszeniert Birgit Dieker ihre Analyse der Phänomene von außen. Schließlich ist jede Innenansicht notwendig verzerrt und dadurch in ihrer Bedeutung eingeschränkt. Sie schafft Formen, die so sinnlich sind, dass man anfassen will und doch gleichzeitig davor zurückschreckt. Man spürt eine Art Tabugrenze. Birgit Dieker arbeitet mit größter Präzision am Material, aber ohne Materialverliebtheit. Man beginnt eine Schuld zu fühlen, aber nicht an Schuld zu denken. Aus Erfahrung weiß jeder: In der Kälte wird die Sonne kleiner. Birgit Dieker schafft es, den Objekten ihr Geheimnis zu lassen. Etwa bei der Matratze Hide and Seek oder bei Babette, wo sie das Wahre am Inhalt nicht verrät. Babette erscheint wie die Hülle der Großen Göttin von Hans Magnus Enzensberger: Sie flickt und flickt, über ihr gebrochenes Stopfei gebeugt, ein Fadenende zwischen den Lippen. Tag und Nacht flickt sie. Immer neue Laufmaschen, neue Löcher. Sie ist eine Reduktion auf Frau, … die mit ihrem Fingerhut nach den Löchern der Welt tastet und flickt und flickt. 

Zugleich kommt zur Vorführung: Jede Perversität ist zu verkaufen. Heute stellt sich für jeden die Frage, ob er die eigene Haut retten kann oder bloß noch zu Markte tragen. Indem die Arbeiten den Rand zum Körper inszenieren, berühren sie Vermischungszustände, in denen das Transitorische unserer Existenz aufscheint. Sie spielen auf die ganz konkreten, täglichen, körperlichen Erfahrungen an: Ausscheidungen, Einführungen, Vermischung und Zerfall. Jeder sieht es, ahnt es zu riechen, nur hören kann er es nicht. Es sind Objekte der Körperempfindungen auf der Straße der Zivilisation. Durch Reduktion auf das Wesentliche spürt man in den Arbeiten von Birgit Dieker eine Demut, die jeder gegenüber dem Geschenk der Existenz haben sollte. Die Körperemotionen lassen die Objekte in großer Schönheit strahlen. Sie beleuchten die prekären Seiten unserer Existenz. In Nightmare droht der Sog des Poeschen Trichters, alle und alles zu vernichten. Wir nehmen beim Anblick in den Abgrund plötzlich wahr: In jeder Sekunde, in der wir leben, können wir auch sterben. Deshalb wandle immer auf dem kürzesten Weg, denn er ist für die Chocverarbeitung der natürlichste. Als Erfahrung bleibt zurück, dass jeder in jedem Augenblick ein Nichts ist, wenn er in der Lage ist, den wirklichen Lauf der Welt zu sehen. Im Angesicht des Nichts gilt der ganze Einsatz der Schönheit – denn der Dreck wird immer Dreck bleiben.